Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die 13. Tagung des Forums Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit und im Übergang zur Moderne findet vom
10.−12. Februar 2012 in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Stuttgart-Hohenheim statt.
Das Thema lautet: Jüdische Populärkultur in der Frühen Neuzeit.
Populärkultur ist im Kontext des enthierarchisierten Kulturbegriffes der cultural studies ebenso wie sein älterer Vorläufer Volkskultur ein problematischer Begriff, der, so scheint es, bereits selbst in Auflösung begriffen ist. Zu Recht wurde etwa darauf hingewiesen, dass sich Hochkultur und Populärkultur nicht klar voneinander unterscheiden lassen, die Grenzen vielmehr fließend sind und vielfältige Transfers und gegenseitige Beeinflussungen stattfinden.
Dennoch war und ist der Begriff der Populärkultur wichtig, um eben diese Durchlässigkeit diskutieren und den Blickwinkel der historisch-kulturwissenschaftlichen Forschung auf kulturelle Ausdrucksformen abseits der Bildungsschichten lenken zu können.
Dies gilt insbesondere für die Vormoderne und mehr noch für die Jüdischen Studien. Zwar markiert die Frühneuzeit mit dem Entstehen der Massenmedien den Beginn der Populärkultur, doch wurde in der Forschung der Fokus zunächst auf das 19. und 20. Jahrhundert, auf das bürgerliche Zeitalter und die Moderne, gelegt. Während in den Jüdischen Studien populäre Inhalte zuerst innerhalb der Jüdischen Volkskunde behandelt wurden, gerieten sie mit dem akademischen Ende dieser Disziplin in der Schoa in Mitteleuropa jedoch weitgehend in Vergessenheit und wurden nach dem Holocaust nicht selten im Versuch einer Rehabilitierung jüdischer Kultur zugunsten einer bürgerlichen jüdischen Hochkultur häufig verbunden mit dem Nachweis des jüdischen Beitrags zur allgemeinen (Hoch-) Kultur verdrängt.
Seit Peter Burkes wegweisender Studie Popular Culture in Early Modern Europe (erstmals 1978), erschienen zahlreiche Forschungsarbeiten zur Populärkultur in der Frühneuzeit. Mit den Arbeiten etwa von Elliott Horowitz und Natalie Zemon Davis sind seit Ende der 1980er Jahre vereinzelt auch Phänomene einer jüdischen Populärkultur in Mittelalter und Frühneuzeit Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion geworden; zuletzt hat sich Michael Stanislawski der populären Religion der aschkenasischen Juden angenähert (2008). Die dreizehnte Arbeitstagung des Forums Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit möchte diese Perspektive aufgreifen und mit neuen methodischen Ansätzen an ältere Forschungstraditionen anknüpfen.
Dabei will die Tagung aktuelle Forschungen und Interessen interdisziplinär diskutieren, vor allem aber neue Forschungsimpulse aufgreifen. Insbesondere sind der Begriff und das Wesen einer jüdischen Populärkultur methodisch zu diskutieren. Inwiefern lässt sich Populärkultur von einer elitären Hochkultur unterscheiden? Wie stehen sie miteinander in Beziehung? Ist die Unterscheidung von sozialen Klassen und Gruppen, von oben und unten, nicht vielmehr durch eine Unterscheidung kultureller Hegemonie (Antonio Gramsci) zu ersetzen bzw. ist von einer inoffiziellen Kultur zu sprechen, die sich in einem komplexen Beziehungsgeflecht mit offiziellen Normen und Werten auseinandersetzt (Mikhail Bakhtin)? Oder ist Populärkultur schlicht die gemeinsame Kultur, welche gesamtgesellschaftliche Phänomene umfasst, die den Alltag prägen, also Kultur als Alltagspraxis, eine Kultur der Vielen?
Ausgehend von der methodischen Diskussion stehen daher Fragen nach den Trägern und Rezipienten von (Populär-) Kultur im Mittelpunkt der Tagung. Mögliche Aspekte, die als kulturelle Erzeugnisse, Praktiken und Vorstellungen unter dem Oberbegriff Populärkultur diskutiert werden könnten, sind dabei Feste und Liturgie, literarische Traditionen und Folklore (Erzählgut, Legenden, Mythen, Fabeln, Lieder, Spiele u.a.), Sprichwörter, Redensarten und Witze, Riten und Rituale, Aberglaube und Magie, (Volks-) Frömmigkeit, (Volks-) Wissen, Alltagskultur (z.B. Essen, Trinken und Spielen), Kleidung und Sachkultur allgemein, Medien und Sprache einer Populärkultur u.v.m. Dabei wollen wir uns auch die Frage nach der Beziehung von allgemeiner Populärkultur und jüdischer Populärkultur stellen; was ist also jüdisch an bestimmten popularen Ausdrucksformen? Und wie wurde jüdische Populärkultur von außen wahrgenommen und rezipiert?
Beiträge von ca. 20 Minuten Länge aus den unterschiedlichsten Arbeitsbereichen und Perspektiven, die sich mit der jüdischen Populärkultur zwischen dem Spätmittelalter und dem 19. Jahrhundert beschäftigen, in Form von Berichten, Projektvorstellungen oder ausgearbeiteten Vorträgen sind herzlich willkommen. Vorschläge erbitten wir bis zum 20.11.11 mit einem kurzen Abstract.
Die Tagung wird wie gewohnt von Birgit Klein und Rotraud Ries zusammen mit Dieter Bauer von der Akademie veranstaltet; Konzeption und inhaltliche Vorbereitung liegen hingegen bei Barbara Staudinger (Institut für Jüdische Geschichte Österreichs) und Rebekka Voss (Seminar für Judaistik, Goethe-Universität Frankfurt), an die auch die Abstracts gehen sollten.
Informationen über das Forum sind wie gewohnt auf der Homepage des Arbeitskreises zu finden, darunter auch in Kürze der Bericht über die letzte Tagung im Frühjahr diesen Jahres.
Außerdem möchte ich noch darauf hinweisen, dass die Beiträge der Tagung zum Thema Perspektivenwechsel: Ego-Dokumente, Selbst- und Fremddarstellungen frühneuzeitlicher Juden nun in erweiterter Form im Druck vorliegen:
Birgit E. Klein/ Rotraud Ries (Hgg.), Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente frühneuzeitlicher Juden in Aschkenas. Beispiele, Methoden und Konzepte. Unter Mitarbeit von Désirée Schostak, Berlin 2011 (minima judaica 10), 359 S.
Mit guten Wünschen zum Beginn des Semesters und besten Grüßen
Rotraud Ries