Nachruf auf Prof. Dr. Stefi Jersch-Wenzel

Stefi Jersch-Wenzel, geboren 1937 in Berlin, studierte Geschichte an der Freien Universität Berlin. Schon während ihres Studiums lag der Schwerpunkt ihres Interesses auf der Geschichte der deutschen Juden, die damals nur in Berlin gelehrt wurde. Sie promovierte 1964 bei Adolf Leschnitzer über „Jüdische Bürger und kommunale Selbstverwaltung in preußischen Städten 1808–1848“. Anschließend eröffnete sich ihr die Möglichkeit, bei der Historischen Kommission zu Berlin zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu arbeiten. Hier entstand auch ihre Studie „Juden und ‚Franzosen‘ in der Wirtschaft des Raumes Berlin-Brandenburg zur Zeit des Merkantilismus“, mit der sie sich 1975 an der Technischen Universität Berlin habilitierte.

In der Habilitationsschrift entwickelte Stefi Jersch-Wenzel ihren zweiten Forschungsschwerpunkt, die vergleichende Erforschung von Minderheiten. Hierzu publizierte sie 1985 die weitere Studie „Der mindere Status als historisches Problem. Überlegungen zur vergleichenden Minderheitenforschung“. Dem gleichen Thema war der mit Barbara John 1990 herausgegebene materialreiche Sammelband gewidmet „Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin“. Auch in zahlreichen Aufsätzen beschäftigte sie sich immer wieder mit den Minderheiten in der preußischen Gesellschaft und ihrer wirtschaftlichen Funktion. Ihre Forschungen waren auf Preußen konzentriert und hier vor allem auf seine östlichen Provinzen, wie Posen und Schlesien, sowie Berlin und Brandenburg. Der zeitliche Fokus ihrer wissenschaftlichen Arbeit lag auf dem 17. bis 19. Jahrhundert.

Vielen wird Stefi Jersch-Wenzel in Erinnerung bleiben als Geschäftsführerin der Historischen Kommission zu Berlin (1978–1981) und Leiterin der dortigen neu gegründeten Sektion für deutsch-jüdische Geschichte 1981–1995. Drei Jahrzehnte lang bildete die Historische Kommission ihren eigentlichen wissenschaftlichen Arbeitsplatz. Im Jahr 1981 wurde Stefi Jersch-Wenzel apl. Professorin im Institut für Geschichtswissenschaft der TU Berlin und lehrte seitdem dort jedes Semester jüdische Geschichte. Sie versammelte einen Kreis von Doktoranden um sich, aus dem eine Reihe wichtiger Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte hervorging. Ihre eigenen Publikationen zur jüdischen Geschichte umfassten auch Sammelwerke, wie „Bild- und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik“, ediert 1992 mit Marianne Awerbuch. An der von Michael Meyer für das Leo Baeck Institut herausgegebenen „Deutsch-jüdischen Geschichte in der Neuzeit“ beteiligte sie sich als Mitautorin von Band 2 (1780–1871), erschienen 1996.

Als der Berliner Senat die Schließung der Historischen Kommission zu Berlin als wissenschaftlicher Einrichtung beschloss, fand Stefi Jersch-Wenzel 1995 eine neue Position in Leipzig. Hier wirkte sie 1995–1998 als Gründungsdirektorin des Simon Dubnow Instituts für jüdische Geschichte und Kultur, wo sie unter anderem eine Konferenz über „Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa“ veranstaltete. – Schon seit 1992 widmete sie sich zusammen mit Reinhard Rürup der Projektleitung zur Herausgabe von Spezialinventaren, die 1996–2001 in sieben Bänden erschienen unter dem Titel „Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer. Dies Projekt wurde bis 1996 von der Historischen Kommission getragen, nach deren Ende vom Institut für Geschichtswissenschaft der TU. In Fortsetzung dieser Quelleninventare leitete Stefi Jersch-Wenzel dann unter der Trägerschaft der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften das Projekt „Quellen zur Geschichte der Juden in polnischen Archiven“, die sie 2003–2005 in zwei Bänden publizierte. Diese beiden Bände verzeichnen die Dokumente in den Archiven der ehemaligen preußi-schen Ostprovinzen und entstanden in internationaler Zusammenarbeit mit polnischen Archivaren. Beide Archivprojekte wurden unterstützt und gefördert von der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts in der Bundesrepublik. Diese insgesamt neun Inventare, erstellt mit zahlreichen Mitarbeitern, sind als Handwerkszeug für die jüdische Geschichte Preußens heute unverzichtbar und von bleibender Bedeutung.

Stefi Jersch-Wenzel war mit zahlreichen wissenschaftlichen Institutionen ihres Faches verbunden, vor allem mit dem internationalen Leo Baeck Institut (LBI) in London, New York und Jerusalem. Sie gehörte 1989 bis 2012 zum Vorstand der wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des LBI in der Bundesrepublik und war Mitglied im Beirat des LBI Year Book.

Nicht zuletzt amtierte Stefi Jersch-Wenzel 1988–2007 als stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden und als Mitherausgeberin von deren wissenschaftlicher Reihe. Darüber hinaus war sie Vorstandsmitglied des Forschungsinstituts für die Geschichte Preußens, Mitglied im Beirat der Zeitschrift Aschkenas und Beiratsmitglied der Otto und Martha Fischbeck-Stiftung zur Förderung des Wissenschaftskollegs Berlin.

Nach einem erfolgreichen Leben voller Arbeit für die Erforschung, die Lehre und die Institutionen der deutsch-jüdischen Geschichte starb Stefi Jersch-Wenzel mit 75 Jahren im Januar 2013. Sie gehörte zu den allerersten Historikerinnen und Historikern, die dieses Fachgebiet, das jüdische Forscher seit dem 19. Jahrhundert weitgehend außerhalb der Universitäten ent¬wickelt hatten, nach dem Holocaust in Deutschland wieder aufzubauen begannen.

Als Pionierin der deutsch-jüdischen Geschichte in der Bundesrepublik wird ihre Leistung unvergessen bleiben.

Monika Richarz

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